Jahreslosung 2023: Auslegung & Bild
Du bist ein Gott, der mich sieht.
Genesis 16,13
Motiv der Agentur des Rauhen Hauses
Gedanken zur Jahreslosung 2023
von Markus Engelhardt
Du bist ein Gott, der mich sieht: Als dieses Wort aus der Genesis im Februar 2020 – noch knapp vor der Ankunft der Pandemie – zur Jahreslosung 2023 bestimmt wurde, hieß es, man sei bei der Wahl selten so einig gewesen wie dieses Mal. Offenbar gab es das Empfinden, dass diese Aussage einen Nerv der Zeit trifft. Aber welchen? Die Angst, unterzugehen in Anonymität? Die Sehnsucht, wahrgenommen, gesehen zu werden im Hamsterrad einer Welt, die sich unaufhörlich verändert und beschleunigt? Fand man, dieses Wort über Gott, gesprochen von einer Frau in prekärer Lage, verbreite Wärme und Geborgenheit?
Aber Vorsicht an der Bahnsteigkante! Du bist ein Gott, der mich sieht: Man kann das auch sehr anders hören. Dann verliert der Satz seine Wärme und Freundlichkeit. Gott als big father is watching you. Mit dem Bild eines nie weg-, sondern immer hinsehenden Gottes wurden über Generationen in sehr gläubigen Milieus seelische Verheerungen angerichtet. Ja: Es gibt nicht nur den von Gott unter seinem fürsorglichen Blick geschützten Raum. Es gibt auch – zumindest als ein sehr menschliches Bedürfnis – den vor Gott geschützten Raum, wo ich mit all meinen Schatten unbehelligt bleiben kann. Die Worte der Jahreslosung taugen nicht für fromme Erbaulichkeit.
Schon gar nicht, wenn ich ihre bildliche Umsetzung auf mich wirken lasse: Ein stilisierter Globus aus zahllosen Fenstern, aus denen mich – fröhlich, nachdenklich, auch elegisch – Gesichter aller Altersgruppen und Hautfarben anblicken. Wer wird da nicht an die „Kacheln“ erinnert, die uns Zoom & Co. in Pandemiezeiten als neue Normalität des Miteinanders beschert haben. Die Vieldeutigkeit dieser Darstellung spricht mich an, weil in ihr die Ambivalenz der Jahreslosung mitschwingt. Sie verströmt Buntheit und Leichtigkeit – einerseits. Aber die Vielfalt bleibt doch statisch. Die vielen Gesichter kommen nicht in Verbindung miteinander, bleiben in ihrer Kachel gefangen.
Bei „Zoom-Gottesdiensten“ hatte ich oft die Empfindung, dass ich die Gesichter der Menschen intensiver wahrnehmen kann als bei realen, „analogen“ Veranstaltungen. Ich weiß aber, dass auch ich „in der Kachel“ genauer gesehen und gemustert werde. Will ich das?
Ich meine, diese Zweideutigkeit lässt sich nicht auflösen. Auch nicht mit Blick auf unser Gottesbild. An Gott glauben, in einer Gottesbeziehung leben, fordert mich immer wieder heraus, eine bekömmliche Balance zu finden zwischen dem Bedürfnis, von Gott gesehen zu werden, und dem Bedürfnis nach Intimität, das es auch Gott gegenüber geben darf. Etwas ist mir jedenfalls wichtiger, als dass Gott mich allezeit und überall sieht: nämlich dass er mich schon sah, als ich noch gar nicht zu sehen war, dass er schon an mich gedacht hat, als an mich noch gar nicht zu denken war. Also: dass Gott mich erfunden hat. Paul Gerhardt hat das in einem Weihnachtschoral sprachlich und inhaltlich unübertroffen genau und schön ins Wort gebracht:
Da ich noch nicht geboren war,
da bist du mir geboren
und hast mich dir zu eigen gar,
eh ich dich kannt, erkoren.
Eh ich durch deine Hand gemacht,
da hast du schon bei dir bedacht,
wie du mein wolltest werden.
(EG 37,2)
So lasse ich mir den Gott, der mich sieht, gern gefallen.
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