Adventsgedanken vom 18.12.2023

Weihnachtserwartungen

Jedes Jahr kurz vor Weihnachten erklären Familientherapeuten, dass man nicht mit zu hohen Erwartungen in den Heiligen Abend stürzen solle. Das würde unweigerlich zu Enttäuschungen und daraus folgenden Streitigkeiten führen. Das ist ein lebensweiser Rat. Man kann ihn übrigens auch auf Weihnachtsgottesdienste anwenden. Deshalb, liebe Weihnachtschristen, pflegt auch Ihr ein kluges Erwartungsmanagement!

Bedenkt erstens, welch vielfältigen und widersprüchlichen Erwartungen die Pfarrerinnen und Pfarrer ausgesetzt sind: Ihre Worte sollen stimmungsvoll sein, aber nicht klebrig, nachdenklich, aber auch besinnlich, gleichermaßen für Herz und Verstand, grundsätzlich und zugleich aktuell, politisch und unpolitisch, humorvoll, doch nicht zu sehr, denn eine Träne möchte man ja auch in der Weihnachtskirche vergießen.

Bedenkt zweitens, dass eine Predigt wenig bewirken kann, wenn man selbst keine Gottesdienstübung mitbringt. Mit der Kirche ist es doch wie mit dem Fitness-Studio: Wer nur einmal im Jahr hingeht, hat wenig davon. Der Gottesdienst hat mehr mit Training zu tun, als die meisten Protestanten oder Post-Protestanten glauben. Es geht hier auch um Übung und Wiederholung – dann erst kann sich etwas erfüllen.

Bedenkt drittens, dass nicht nur das Schreiben und Halten einer Predigt ein kreativer Akt ist, sondern auch das Hören. Die Predigt soll nicht direkt wirken, sondern das eigene Denken, Fühlen und Glauben zur Selbsttätigkeit anregen. Als Pastor kennt man diese beglückende Erfahrung, dass Menschen einem manchmal nach Jahren erzählen, wie sehr man ihnen mit einer bestimmten Predigtbotschaft geholfen habe – man selbst aber ziemlich sicher ist, es so niemals gesagt zu haben. Deshalb, liebe Weihnachtschristen, überlasst das Predigen nicht euren Pastorinnen und Pastoren, sondern predigt hörend mit!

Zum Schluss eine erbauliche Geschichte: Vor einigen Jahren saß ich Anfang Januar mit Pastorenkollegen zusammen, und wir erzählten von unseren Weihnachtsgottesdiensten. Da sagte einer: „Also, mir ist etwas Seltsames passiert. Am Tag vor Heiligabend hat mir ein Mann zwei wütende Emails geschrieben: Ich sollte es bloß nicht wagen, in der Christmette über Pegida zu predigen, sonst könnte ich etwas erleben! Er würde in der Kirche einen Riesenaufstand machen. Dabei hatte ich das gar nicht vor. Ich wollte bloß über die Weihnachtsgeschichte predigen.“ Darauf ein anderer: „Lustig, bei mir war es genau andersherum. Ich habe an Heiligabend ebenfalls über die Weihnachtsgeschichte gepredigt und bekam gleich am nächsten Morgen die zornige E-Mail einer Frau: Ich hätte ja überhaupt nicht über Pegida gepredigt! Das ganze Weihnachtsfest hätte ich ihr verdorben.“

Dr. Johann Hinrich Claussen

In der Agentur des Rauhen Hauses Hamburg ist von diesem Autor erschienen:
1 1314-5 Claussen, Von Laubpustern, Tattoos und anderen christlichen Traditionen (Bildband 11,50€)